Sierra Kidd: TFS - Ein Album, das Millionen aus der Seele spricht

In Deutschland leiden, laut der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde), jedes Jahr rund 27,8 % der Bevölkerung Deutschlands an einer psychischen Erkrankung. Dieser Prozentsatz entspricht umgerechnet ungefähr 17,8 Millionen Menschen. Dabei ist der Großteil, rund 15 % der Erkrankten, Opfer einer Angststörung.

Warum ich das schreibe? Vergangenen Freitag hat Sierra Kidd, bürgerlich Manuel Jungclaussen, sein neuestes Album „TFS“ veröffentlicht. Parallel dazu feierte das splash! Festival sein 22-jähriges Jubiläum und Shindy rappte zur Veröffentlichung von „Drama“ als Secret-Act auf der Main Stage. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich das Festivalgelände trotzdem verlassen und ich möchte versuchen euch näherzubringen, warum das so ist.

Rap wurde immer als eine Ausdrucksform der Unterdrückten wahrgenommen. Diejenigen, die keine Stimme hatten, haben sich Gehör durch ihre Musik verschafft. Durch eine zunehmend größer werdende Industrie hat sich aber einiges verändert. Ein Großteil der Musik beschäftigt sich nur noch damit möglichst luxuriösen Konsum in jedweder Form, als Ziel darzustellen.

Diese Form von musikalischem Ausdruck hat natürlich ihre Daseinsberechtigung und ich möchte in keiner Weise andere Künstler mit meinem Artikel disrespecten. Sierra Kidd hat mit seinem Album „TFS“ aber etwas geschaffen, dass es verdient hat besprochen zu werden:

 
Hört man sich durch die Diskografien der Deutschen Rapper, gibt es in den seltensten Fällen Künstler, die sich diesem Thema widmen. Sierra Kidd selbst leidet seit geraumer Zeit an einer Angststörung und den Folgen dieser Erkrankung. Auf „TFS“ hat er sich ein ganzes Album Zeit genommen, um seine Geschichte zu erzählen und über seine Probleme zu sprechen. Dabei ist er erbarmungslos ehrlich. So ehrlich, dass ich am liebsten nicht zuhören würde.

Und ich denk‘ an den Crash von damals, denk mir nur, „Warum hab‘ ich bloß überlebt?“ 
Und dann denk‘ ich an die Lines, die ich einfach zog, wünschte mir, ich hätte mehr überlegt,
Werde süchtig nach Pain, denke, ich hab es verdient, tätowier‘ mir mein Face,
Hasse mich selbst, kann die Leute, die mich lieben, nicht wirklich versteh’n,
Frag‘ mich, bin ich noch ich selbst?

Sierra Kidd – Lach Nicht Mehr

Auf „Januar 2018“ behandelt er den „Auslöser“ seiner aktuellen Krankheit. Er spricht über einen der schicksalhaftesten Momente seines Lebens. Ein vermeintlich „gewöhnlicher“ Abend mit Freunden und Drogen wird zu einem Point-Of-No-Return der zu Arztbesuchen und einer emotionalen Odyssee geführt hat. Beginnend als eine Art Storyteller-Track gelangen wir zu der Erkenntnis, dass der Gedanke an einen Benz und Geld lächerlich ist, wenn man sein Leben nicht mehr in den eigenen Händen hat. Zum Ende des Tracks bleibt ein unverblümter Wunsch nach Veränderungen. Dieser Wunsch wird nicht nur von Kidd gehegt, Millionen von Menschen wollen das sein, was konventionell als „normal“ interpretiert wird.

Kann beizeiten sogar meine Wohnung nicht verlassen,
Und mein größter Wunsch wurd‘ es, es nach Portugal zu schaffen,
Dabei kann ich noch nicht mal Pommes um die Ecke kaufen,
Kann nur Auto fahr’n, sind wirklich keine Menschen draußen

Sierra Kidd – Januar 2018

Eines der Herzstücke des Albums stellt das Outerlude „Zreh“ dar. Auf diesem spricht der Gegenwarts Manu mit dem Zukunfts Manu. Das Outerlude ist eine auf dem Handy aufgenommene Sprachnachricht, in der darüber gesprochen wird, dass von außen betrachtet eigentlich alles gut zu sein scheint. Das einzige, was Manu daran hindert zu fliegen ist ein eigens gesponnener Kokon aus Angst. Wer den „Track“ hört, merkt, dass diese Nachricht nicht für das Album aufgenommen wurde, es gab keine Synchronsprecher die engagiert wurden und mit Sicherheit hat da kein Label nochmal rübergeschaut. Wir hören einfach nur die echten Emotionen eines Menschen, der an sich selbst verzweifelt und das mit der Welt teilt. Auf die Frage in welchem Szenario diese Sprachnachricht aufgenommen wurde, antwortete mir Kidd:

„Ich wollte mir selber sagen dass mir nix passiert, hatte einen extremen angstzustand und dachte ich werde jeden Moment verrückt“

Diese Authentizität ist des Pudels Kern. Wenn es beispielsweise um Suchtprävention geht, ist niemand besser geeignet als ein ehemals Süchtiger. Bestes Beispiel: $ick aus ShoreSteinPapier. Unter anderem deshalb sehen viele Leute Sierra Kidd als eine Art Vorbild für psychisch erkrankte Menschen.

Im April diesen Jahres habe ich Kidd für 16BARS nach einem Interview gefragt. Die Antwort, die wir damals erhalten haben war, dass er aufgrund einer Krankheit an sein Zuhause gebunden ist. Wenn es auf dem gesamten Album Zeilen darüber gibt, dass Kidd sein Haus nicht verlassen kann, könnte der Eindruck erweckt werden, man kann ansatzweise den Schmerz nachempfinden. Die meisten Personen, die ihr emotionales Päckchen mit sich rumtragen wissen aber genau, dass solche Emotionen nicht in Worte zu fassen sind. Die glaubhafte Schilderung der Emotionen wird niemals gleichzusetzen sein mit den Höllenqualen unter denen, unter anderem, er leidet. So sagte bereits Kafka:

Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüßtest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen vor einander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle…

– Aus einem Brief von Kafka an Pollak; 08. November. 1903

Solltet ihr Angehörige haben die selbst von einer psychischen Erkrankung betroffen sein sollten, steht ihnen zur Seite. Solltet ihr selbst Probleme haben, sucht euch professionelle Hilfe. Schließlich zeugt es von Stärke sich Schwäche einzugestehen.

Hier findet ihr die Nummer der anonymen Telefonseelsorge: 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222

Verfasst von Haci Altinpinar

Aktuelle Deutschraptracks findet ihr außerdem in unserer Playlist:

 
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