Review: Kanye West - Yeezus

„He’ll give us what we need / It may not be what we want“

Kanye West veröffentlicht ein Album und die Welt dreht durch. Kurzfristig angekündigt, ohne Singles, ohne Videos, ohne Cover und mit minimaler Promotion erschien letzte Woche mit „Yeezus“ das wahrscheinlich meist antizipierte Release des Jahres. „Wie würde sich Kanye anhören, nachdem er durch seine Liaison mit Reality TV-Star Kim Kardashian endgültig in den Fokus des gesamtgesellschaftlichen Voyeurismus rückte?“ und „Welchen Einfluss würde die bevorstehende Vaterschaft auf die Musik des ebenso großartigen wie größenwahnsinnigen Selbstdarstellers nehmen?“, waren nur zwei der Fragen, die sich Fans weltweit stellten.

Allerspätestens seit dem phänomenalen „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ wird von einem neuen Kanye West-Album wohl nicht weniger erwartet, als die kontemporäre Musik-Landschaft nachhaltig zu verändern. Kanye ist längst zu einer pop-kulturellen Instanz aufgestiegen und damit endgültig an dem Punkt angelangt, zu dem der junge College-Abbrecher aus Chicago einst mit Rucksack und einem pinkem Polo-Shirt bewaffnet aufbrach. Vom gefragten Produzenten zum heißesten Newcomer zum Rap-Star zur internationalen Pop-Ikone, verheiratet mit einer der begehrtesten Frauen der Welt und Best Buddies mit seinem einstigen Rap-Idol Jay Z. Kanyes Strahlkraft wie auch sein Ego haben längst die bekannten Grenzen des HipHop-Orbits überschritten. Und das hört man auf „Yeezus“ ohne Zweifel.

Schon immer einer derjenigen, der neue Strömungen und Trends frühzeitig erkannte und in seine Musik inkorporierte, agiert der Mode-affine Kanye auf „Yeezus“ nicht ungleich eines Star-Designers, der aktuelle und vergangene Stile und Schnitte miteinander in Verbindung setzt. Ähnlich wie sich ein solcher Modezar von diversen Schneidern und Mitarbeitern zuarbeiten lässt und letztlich die einzelnen Teile entsprechend seiner Vision zusammenfügt, versammelte auch Kanye für die Albumproduktion von „Yeezus“ ein in der Form noch nicht da gewesenes Team an Kreativkräften. An den 10 Tracks des Albums arbeiteten nicht weniger als 20 Produzenten mit, darunter klanghafte Namen wie die French House-Roboter von Daft Punk, die bei G.O.O.D. Music unter Vertrag stehenden Hoffnungsträger Hudson Mohawke und Travi$ Scott, die Electro-Produzenten Gesaffelstein und Brodinski sowie langjährige Kollaborateure wie No I.D., 88 Keys und Mike Dean.

Glaubt man dem eng in den Schaffensprozess involvierten Dean, so ließ Kanye die verschiedene Produzenten parallel an diversen Beatskizzen arbeiten und fügte schließlich die Elemente, die ihm am meisten gefielen, zu dem nun hörbaren Endergebnis zusammen. Dementsprechend collagenhaft klingt das Album auch: elektronische Sounds und Störgeräusche, industriell klingende Drums, Auto-Tune, Trap-Elemente, Dancehall-Vocals, Soul-, Rock und Acid House-Samples – alles ist vertreten. Trotz einer derart breiten Palette an Stilen und Sounds klingt „Yeezus“ allerdings nie überladen. Im Gegenteil. War „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ opulent in seinem Sound und Arrangement, ist „Yeezus“ eher reduziert. Alles ist an seinem Platz, nichts ist zuviel. „Minimalismus“ ist das Schlagwort, das Kanye in diesem Zusammenhang in einem Interview mit der New York Times benutzte.

Für diese Charakteristik des Albums machte Kanye Rick Rubin verantwortlich, der wenige Wochen vor Abgabe als Executive Producer ins Boot geholt wurde und Kanye dabei half Überflüssiges loszuwerden und das Projekt zu Ende zu bringen. Im selben Interview gab sich Kanye in Bezug auf die neue Platte auch als „schwarzer New Wave-Künstler“ aus, was sicher nicht ganz der Realität entspricht. Jedoch ist es eben die reduzierte Ästhetik des ehemaligen Punk-Rockers Rubin, mit der dieser bereits Mitte der 80er den Hip-Hop-Sound der frühen Def Jam Records Tage prägte, die den experimentierfreudigen, kantigen und düsteren Produktionen des Albums Richtung und Klarheit gibt.

Inhaltlich geht es auf „Yeezus“ derweil ähnlich düster und sperrig zu wie musikalisch. Noch nie darum verlegen, sich mit seinen Aussagen selbst zu widersprechen, vermischt Kanye hier berechtigte Sozial- und Medienkritik mit zur Schau gestelltem Materialismus, Größenwahnsinn, Berichten sexueller Ausschweifungen und schierer Paranoia. Trotz all seiner Leistungen, Errungenschaften und materiellen Besitztümer fühlt sich Kanye offenbar noch immer nicht genügend akzeptiert und wertgeschätzt, was er u.a. auf „New Slaves“ auf rassistische Motive und stereotype Denkweisen der Medien und einflussreicher Eliten zurückführt. Wenn er in diesem Zusammenhang, „Fuck you and your corporation / Y’all niggas can’t control me“, skandiert, scheint er dabei geflissentlich zu vergessen, dass er mit Nike, Louis Vuitton und Def Jam / Universal Music Group selbst mit ein paar mächtigen Konzernen das Bett teilt.

Im weiteren Verlauf des Albums versucht Kanye dann mit eher fragwürdigen Mitteln seine rebellenhafte Attitüde zu untermauern: noch kaltherzigeres Statusgeprahle, noch explizitere Phantasien sexueller Dominanz und ein Riesen-Fickfinger an jeden der seine Rolle als kulturellen Heilsbringer („I Am A God (featuring God)„) in Frage stellt. Das macht zwar insgesamt wenig Sinn, ist bisweilen unfassbar oberflächlich und inhaltlich dünn, sorgt aber in seiner vollkommenen Überzogenheit auch nicht gerade für Langeweile. Dass Kanye für einen trailerartigen Kurzfilm zum neuen Album gerade die Verfilmung von Bret Easton Ellis Bestseller „American Psycho“ adaptierte, ist in diesem Zusammenhang sehr bezeichnend.

Denn Kanye spielt auf dem Album den Antihelden. Einen von der Suche nach Macht, Anerkennung und künstlerischer Perfektion getriebenen Soziopathen, der wenn er nicht gerade über seine Vorlieben für Fisting und Anilingus berichtet, herumbrüllt, man möge ihm gefälligst seine verdammten Croissants bringen. Das mag alles stumpf, arrogant oder irritierend wirken, ist allerdings wahrscheinlich eine ziemlich ehrliche Darstellung einer definierenden Facette von Kanyes Persönlichkeit.

Im oben erwähnten NY Times Interview gab Kanye auch zu Protokoll, dass „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ ein Album war, das er als „backhanded apology“ für die US-amerikanische Öffentlichkeit gemacht habe, um sich nach Ausfällen wie dem Taylor Swift-Vorfall und der ebenfalls sehr experimentellen LP „808s & Heartbreak“ in den Augen der Allgemeinheit wieder gut zu stellen. Wer also auf eine nahtlose Weiterführung von „MBDTF“ hoffte, wird von „Yeezus“ enttäuscht, denn das Album ist – wenn auch soundtechnisch absolut unterschiedlich – ähnlich wie „808s & Heartbreak“ eine sehr viel rohere Abbildung von Kanye Wests Künstleridentität. Wer hoffte die bevorstehende Vaterschaft hätte Kanye zu einem warmen Sample-lastigen Sound á la „College Dropout“ oder „Late Registration“ zurückgebracht, sollte „Yeezus“ (vielleicht mit Ausnahme des letzten Songs „Bound 2„) ebenso mit Vorsicht genießen, wie jemand, der nach einer Erzählstimme sucht, mit der er sich identifizieren kann.

Ganz im Sinne des von Beginn an im HipHop implementierten Gedanken des Samplings und des ursprünglichen DJings setzt Kanye Elemente unterschiedlichster musikalischer Herkunft miteinander in Verbindung und kreiert damit einen Sound der exemplarisch für das aktuell voranschreitende Verschwinden starrer Genregrenzen steht. Beispiele für Künstler die Ähnliches bereits seit Jahren praktizieren und damit möglicherweise interessantere Kunst schaffen, als es „Yeezus“ ist, gibt es zuhauf. Jedoch ist die Entscheidung, ein derart düsteres, experimentierfreudiges Album mit echten Ecken und Kanten zum vermeintlichen Höhepunkt von Kanyes weltweiter Popularität zu veröffentlichen, ebenso mutig, wie die eigenen charakterlichen Unzulänglichkeiten und Makel derart nach außen zu kehren.

Niemand glaubt wirklich, dass Kanye West nicht in der Lage gewesen wäre ein weiteres „MBDTF“ zu produzieren. Stattdessen entschied er sich sein Publikum herauszufordern und mit einem Album zu konfrontieren, dass sich nicht direkt beim ersten Hören erschließt. Dass das Album seit Veröffentlichung vergangene Woche derart kontrovers diskutiert wird, spricht dafür, dass es seine kulturelle Wucht nicht verfehlt hat. „Yeezus“ ist möglicherweise nicht das, was die weltweite Fangemeinde von Kanye wollte, aber vielleicht ist es der Stoß vor den Kopf, den sie brauchte.

Alle Bilder stamen aus dem Yeezus Fan-Art Tumbler Yeezy Graffiti.