"Drill Music": Aufkommen des Phänomens und Nachwehen des Drill-Movements in Chicago

2012 war in mehrerer Hinsicht ein besonderes Jahr für Chicago: Einerseits erlebte die Windy City durch die Drill-Music-Bewegung eine Wiedererstarken ihrer Position im amerikanischen Rapgame, andererseits hatte die Stadt mit über 500 Morden im Zeitraum von einem Jahr die mit Abstand höchste Mordrate der gesamten USA vorzuweisen. Diese zwei Sachverhalte sind direkt verknüpft, sie bauen zum Teil sogar aufeinander auf – ohne die extreme Jugendgewalt in Chicago würde es wahrscheinlich keine Drill Music geben.

Der Begriff „Drill Music“ entstand aus einem Slangwort: „to drill“ bezeichnet das Kämpfen oder Rächen gegen bzw. an einem Gegner. Das Verb gibt damit auch gleich die inhaltliche Orientierung der Musik vor, es geht viel um Gewalt und um den Kampf, sich in den Straßen Chicagos zu behaupten. Die je nach Songausrichtung portraitierenden oder einschüchternden Texte werden in der Regel recht simpel gehalten und auf Instrumentals gerappt, die sich am Soundbild des Dirty South orientieren und sogar einige Trap-Elemente vorweisen. Young Chop, seines Zeichens die Gallionsfigur der produzierenden Seite des Drill-Movements, nennt Größen wie Lex Luger, Drumma Boy oder Zaytoven als Produzenten, deren Sound als Blaupause für die Entwicklung des Drill-Sounds gedient hat.

Um zu erklären, wie diese Antithese zum inhaltsschweren, lyrischen Rap eines Lupe Fiasco in derselben Stadt enstehen konnte, muss man die geschichtliche Entwicklung von weiter zurück betrachten.
Chicagos Rap-Identität war von den 90ern bis in die späten 00er-Jahre eher durch Conscious-Rap geprägt. Der bekannteste Sproß der Stadt ist wohl Kanye West, den aber kein vernünftiger Mensch als Gangster bezeichnen würde. Auch Common hat seine Berühmtheit durch die Tiefgängigkeit seiner Texte und nicht durch das Zurschaustellen von kriminellen Aktivitäten erlangt. Selbst Twista, der eindeutig eine härtere Gangart als die beiden Genannten fährt, ist inhaltlich kaum mit den Chicagoer Rappern des Drill-Movement zu vergleichen. Das heißt nicht, dass die ältere Generation der Chicagoer Rapper sich nicht mit den Gewaltproblemen ihrer Stadt auseinandergesetzt hätte, es wurde nur ein anderer Ansatz als bei „Drill Music“ verfolgt.

Common feat. Kanye West – Southside

Wie erklärt sich also die Härte und Brutalität in den Texten der Drill-Rapper? Weshalb greifen die Drill-Produzenten lieber auf Synthies aus Atlanta zurück, als den samplebasierten Sound von No I.D. zu adaptieren?

Den Grundbaustein für die Entwicklung legt ein politischer Prozess: Am Anfang des 21. Jahrhunderts fasste die Chicago Housing Authority, eine Gesellschaft, die die Wohnraumverteilung in Chicago überwacht, den radikalen „Plan for transformation“. Dieser sah den Abriss aller Sozialbau-Hochhäuser in der Nähe des Zentrums und die anschließende Umsiedlung von zehntausenden Bewohnern mit niedrigem Einkommen in die ärmeren Süd- und Westviertel der Stadt vor. In den 90ern hatte das FBI zudem einen Kreuzzug gegen die Ganggewalt in Chicago gestartet, in dessen Folge die Köpfe der größten Gangs verurteilt wurden.

Der sozial sowieso schon schlecht gestellte Westen und Süden der Stadt wurde daher in der Folge von tausenden Geringverdiener-Familien überflutet, und das auch noch in einem enorm kurzen Zeitraum. Durch das Eingreifen des FBI war innerhalb der Gangs zusätzlich noch ein Führungskrieg entbrannt, da die Throne an den Spitzen der Gangs nach neuer Besetzung verlangten. Diese internen Reibereien führten zum Aufsplittern vieler Gangs, dazu wurde der Streit um die Führungspositionen auch gewaltsam ausgetragen; die Gang-Gewalt entflammte von Neuem.

In diesen von Bandengewalt und sozialer Unsicherheit geprägten Vierteln der Stadt erlebten Chief Keef und seine Drillrap-Kollegen ihre Jugend. Chicago’s Conscious-Rapper kamen zum Teil zwar auch aus ärmeren Vierteln, konnten sich aber durch ihre Bildung und einen stabileren familiären Hintergrund noch mit den großen Fragen des Lebens beschäftigen, während sich die Drill-Rapper mit dem Sterben ihrer Freunde und Familienangehörigen sowie dem bloßen Erfüllen ihrer Grundbedürfnisse auseinandersetzen mussten.
Oftmals ohne Vater aufgewachsen, waren viele Jugendliche der Chicagoer Elendsviertel gezwungen, durch den Verkauf von Drogen das eigene Ǔberleben und das der Familie zu sichern. Bildung spielte ab einem gewissen Alter dann weniger eine Rolle, zudem mussten die Teenager auf der Straße präsent sein und wenn nötig auch Härte zeigen, um ihre Position zu sichern.

Diese Realität erklärt wohl auch die Affinität der Drill-Rapper zu Atlanta-geprägtem Sound: Für inhaltliche Tiefe war im Leben der Chicagoer Teenager nur begrenzt Platz, mit basslastigem Songs über Drogen, Geld und Gewalt konnten sie sich eher als mit dem Conscious-Ansatz ihrer Rap-Vorgänger identifizieren.
Die ersten Ansätze zur „Drill Music“ entstanden daher auch aus reiner Langeweile der Protagonisten – es wurde (zu Beginn zumindest) weniger versucht, mit sozialkritischem Tenor die Misstände ihrer Umgebung darzustellen. Die Gründer der Drill-Bewegung wollten sich durch die Musik von ihrem tristen Alltag in den Chicagoer Slums ablenken und nach außenhin ihre Gang und ihre eigene Person präsentieren.

Während Rapper wie Pacman und Bump J als Originatoren zu nennen sind, waren es doch jüngere Charaktere, die der Bewegung zu ihrem Durchbruch in die breite 〓ffentlichkeit verhalfen:
Als Initialzündung für das Durchstarten des Drill-Movements lässt sich wohl der von Young Chop produzierte Chief Keef-Track „300“ nennen. Chief Keef war zum Zeitpunkt des Entstehens wegen Waffenbesitzes unter Hausarrest und fing an, mit den Beats des befreundeten Young Chop zu experimentieren. Das erste Ergebnis war „300“, welches auch prompt mit einem Video versehen wurde. Auf einem von Hihats durchzogenen Bläser-Beat rappt Chief Keef über die Unantastbarkeit seiner Gang, während seine Freunde im Video Gras rauchen und die Hände zu Drohgebärden formen. Die Kombination aus Chief Keefs Charisma, dem bombastischen Beat und dem aggressiven Flair der Lyrics und des Videos verhalf dem Song zu einem rasanten Aufstieg in der Blogosphäre.

Chief Keef – 300

Während die Aufmerksamkeit um den Rapper im Internet grad erst zu wachsen begann, veröffentlichte Keef weiter Videos und Mixtapes, die in Chicago einen lokalen Buzz erzeugten. Auf diesem Wege fand der ebenfalls von Young Chop produzierte Track „I Don’t Like“ zu Kanye West, dem der Song so gut gefiel, dass er ihn mit einer eigenen Version veredeln wollte. In den Blogs bekamen die Videos von Chief Keef und seinen Kollegen grade den ersten Hype, da erschien auf einmal ein Remix von „I Don’t Like“ der mit Features von Pusha T, Big Sean, Jadakiss und natürlich Großmeister West selbst versehen war.

Chief Keef feat. Kanye West, Pusha T, Big Sean & Jadakiss – I Don’t Like (Remix)

Es war wohl dieser Remix, der die Drill-Bewegung in den Fokus der breiten Masse rückte. Chief Keef und Young Chop wurden gesignt und auch befreundete Rapper wie King L(ouie), Fredo Santana, Lil Reese oder Lil Durk schafften es, den Hype für sich zu nutzen und bei einem Major unterzukommen. Auch weibliche MCees wie Katie Got Bandz und Sasha Go Hard haben zum Drill-Hype beigetragen und sollten an dieser Stelle erwähnt werden.

Lil Durk feat. Lil Reese – Off The Shits

Fredo Santana feat. King L – Just Be Cool

Katie Got Bandz – I Need A Hitta

2014 kann man nun eine erste Bilanz für Drill-Rap ziehen. Der erste große Hype ist abgeflaut, die 1. Generation der Drill-Rapper ist mehr oder minder erfolgreich im Mainstream angekommen. Young Chop macht Beats für u. a. French Montana, Big Sean und Pusha T, während man auf Major-Produktionen hier und da eindeutig Drill-Elemente im Soundbild verorten kann. Chief Keef hat mit „Finally Rich“ sein Solo-Debüt über Interscope Records veröffentlicht (welches in der ersten Woche über 50.000-mal verkauft werden konnte), Lil Durk ist bei Def Jam Records sowie bei French Montana’s Coke Boy-Imprint untergekommen und plant sein erstes Album noch dieses Jahr zu veröffentlichen. Fredo Santana konnte auf seinem ersten Album „Trappin‘ Ain’t Dead“ sogar mit einem Kendrick Lamar-Feature aufwarten, während Lil Reese Tracks mit Rick Ross und Drake vorzuweisen hat.

Fredo Santana feat. Kendrick Lamar – Jealous

Lil Reese feat. Drake & Rick Ross – Us (Remix)

Wie sich die 1. Generation des Drill-Movements im Mainstream bewegt ist zwar spannend zu beobachten, noch spannender sind allerdings die Auswirkungen des Erfolgs der Drill-Rapper auf die Chicagoer Jugend. Die Teenager der Chicagoer Slums konnten durch den großen Drill-Hype auf einmal sehen, dass ihre eigenen Rapversuche kein bloßer Zeitvertreib sein mussten, sondern wirklich eine Leiter aus dem Graben des Ganglebens bedeuten konnten. Der Erfolg der Drill-Rapper zeigte den Jugendlichen ganz neue Aufstiegsmöglichkeiten und eine alternative Perspektive zu Drogenverkauf und Mindestlohnarbeit am Rande des Existenz-Minimums.

Diese Motivation sorgte in der Folge dafür, dass im Anschluss an den Hype um Chief Keef und seine Glory Boyz Entertainment-Kollegen eine Unmenge an zum Teil sehr jungen, amateurhaften Nachwuchsrappern aus dem Boden sprossen, die ihren Idolen in nahezu jeder Hinsicht nacheiferten. Das dabei die sowieso schon diskutable Qualität von Drill-Songs noch viel eher litt, ist wohl logisch.

Lil Mouse – Get Smoked

Durch diese Ǔberfütterung flaute der Hype um Drill etwas ab. Neue Drill-Rapper werden inzwischen nicht mehr sofort als das „Next Big Thing“ angepriesen, Plattenverträge werden wieder spärlicher verteilt. Das Abflachen des Hypes hat aber auch eine positive Wirkung, denn so langsam lässt sich wieder Qualität in den neueren Veröffentlichungen der 2. Generation der Drill-Rapper erkennen. Wo vorher die Vorgaben von Chief Keef und Konsorten praktisch direkt kopiert wurden, ist jetzt wieder Platz für inhaltliche Tiefe und Diversität im Soundbild, da versucht wird, sich vom gefestigten Bild der Drill-Szene abgrenzen zu können.

Als Aushängeschilder dieser zweiten Generation von Drill-Musikern lassen sich zum Beispiel Tink, Lil Herb oder Lil Bibby nennen. Auch Sasha Go Hard, die zwar eindeutig zur ersten Generation der Drill-Rapper zu zählen ist, hat eine Wandlung durchgemacht und veröffentlicht vielschichtigere Musik als zu ihren Anfangszeiten. Die Genannten heben sich durch größere, technische Skills und tiefgründigere Texte von den Hype-Begründern des Drill-Movements eindeutig ab. Ob ihnen damit eine ebenso erfolgreiche Zukunft beschieden ist, bleibt bis auf Weiteres allerdings offen.

Tink – Bars

Lil Herb – 4 Minutes Of Hell Part 2

Sasha Go Hard – Own Lane

Das Drill-Movement hat das amerikanische Rapgame maßgeblich beeinflusst und Chicago wieder in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit rund um Hip Hop gebracht. Es hat dazu beigetragen, dass Jugendliche wie Chief Keef oder Young Chop plötzlich ein Luxusleben führen und weshalb ihnen tausende andere Teenager nacheifern. Junge, aufstrebende Rapper wie L’A Capone oder Lil JoJo schafften es nicht mehr, den Drill-Hype für sich zu nutzen und wurden erschossen – Chicago selbst befindet sich immer noch im Würgegriff der Ganggewalt, auch wenn die Mordrate leicht zurückgegangen ist.

Wie lange der Drill-Sound den Output aus Chicago noch dominiert, wird sich zeigen. An dieser Stelle sei jedoch noch einmal erwähnt, dass es sich in den letzten Monaten in Chicago nicht nur um Drill-Rapper drehte: Auch junge Newcomer wie Chance the Rapper oder Vic Mensa konnten mit ihrem eigenen musikalischen Ansatz fernab von „Drill Music“ einen eigenen Hype generieren. Es geht also nicht nur um Gewalt in Chicago – leider ist das Thema trotzdem noch sehr präsent.